"Der Gott der kleinen Dinge" von Arundhati RoyFür Mary Roy, ... die mich genug liebte, um mich gehen zu lassen. Estha ging einfach weiter, nicht unhöflich. Einfach nur still. Es ist eigenartig, wie manchmal die Erinnerung an einen Tod viel länger lebendig bleibt als die Erinnerung an das Leben, das er beendete. Im Lauf der Jahre, während die Erinnerung an Sophie Mol (...) langsam verblasste, wurde der Verlust Sophie Mols kräftig und lebendig. Das Schweigen saß zwischen Großnichte und kleiner Großtante wie eine dritte Person. Das war das Problem mit Familien. Wie gehässige Ärzte wussten sie, wo es am meisten weh tat. Ein kalter Falter mit ungewöhnlich dicht geschuppten Hinterflügeln landete schwerelos auf Rahels Herz. Dort, wo seine eisigen Beine sie berührten, bekam sie eine Gänsehaut. Sechs Stellen mit Gänsehaut auf ihrem unbedachten Herzen. Ammu liebte sie ein bisschen weniger. Der Falter auf Rahels Herz hob ein kleines pelziges Bein. Und stellte es wieder ab. Das Beinchen war kalt. Ihre Mutter liebte sie ein bisschen weniger. Und die Atmosphäre war voller Gedanken und Dinge zum Sagen. Aber bei Gelegenheiten wie dieser werden immer nur die kleinen Dinge gesagt. Die großen Dinge lauern unausgesprochen im Inneren. "Er versucht nur, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen", sagte Baby Kochamma und weigerte sich entschlossen, ihre Aufmerksamkeit anziehen zu lassen. Aber Baby Kochamma irrte sich. Adoor Basi versuchte nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er versuchte lediglich, die Aufmerksamkeit zu verdienen, die er bereits auf sich gezogen hatte. Auch Ammu irrte sich. Rahel versuchte, nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die sie verdiente. Rahel schrieb ihm nicht. Es gibt Dinge, die man nicht tun kann - wie zum Beispiel einen Brief an einen Teil seiner selbst schreiben. An die eigenen Füße oder das Haar. Oder das Herz. Die Dinge können sich an einem einzigen Tag verändern. In diesem kurzen Moment blickte Velutha auf und sah Dinge, die er noch nie gesehen hatte. Dinge, die bislang verboten gewesen waren, verdunkelt von den Scheuklappen der Geschichte ... Er sah auch, dass nicht notwendigerweise er der einzige war, der etwas zu verschenken hatte. Dass auch sie ihm etwas schenken wollte ... Ammu sah, dass er sah. Sie entwickelte einen stolzen Sinn für Ungerechtigkeit und einen störrischen, leichtsinnigen Zug, wie er sich in jemand Kleinem bildet, der sein Leben lang von jemand Großem schikaniert worden ist. ... Jesus ... ging über Wasser. Vielleicht. Aber hätte Er an Land schwimmen können? Ammu, die sich unter der Haut ihres Traumes ausruhte, beobachtete sie (Anm.: ihre Zwillinge) und liebte sie so sehr, dass es weh tat. Sie wusste, wer er war - der Gott des Verlustes, der Gott der kleinen Dinge. Selbstverständlich wusste sie es. Ammu staunte über die Transparenz dieses Kusses. Es war ein Kuss so klar wie Glas. Ungetrübt von Leidenschaft und Begehren - diesen zwei Hunden, die so fest in Kindern schlafen und darauf warten, dass sie erwachsen werden. Es war ein Kuss, der keinen Kuss zurückforderte. Kein Kuss umwölkt von Fragen, die nach Antworten verlangen. Das Geheimnis der großen Geschichten liegt darin, dass sie kein Geheimnis haben. Die großen Geschichten sind die, die man gehört hat und wieder hören will. Die man überall betreten und bequem bewohnen kann. Sie führen einen nicht mit Nervenkitzel und einem unerwarteten Ende hinters Licht. Sie überraschen nicht mit Unvorhergesehenem. Sie sind einem so vertraut wie das Haus, in dem man lebt. Oder wie der Geruch der Haut des Geliebten. Man weiß, wie sie enden, aber man hört zu, als würde man es nicht wissen. So wie man, obwohl man weiß, dass man eines Tages sterben wird, lebt, als wüsste man es nicht. Man weiß, wer in den großen Geschichten leben, wer sterben, wer Liebe finden und wer sie nicht finden wird. Und doch will man es immer wieder wissen. Darin liegt ihr Geheimnis und ihr Zauber. Etwas in der Atmosphäre veränderte sich. Und Rahel wusste, dass Estha gekommen war. Sie sah sich nicht um, aber ein Glühen breitete sich in ihr aus. Er ist gekommen, dachte sie. Er ist hier. Bei mir. ... kein Tier hat sich je an der unendlich erfindungsreichen Kunst des menschlichen Hasses versucht. Kein Tier kann es mit seiner Mannigfaltigkeit und Macht aufnehmen. Er hatte nichts von der Vagheit und um Entschuldigung heischenden Unbeholfenheit, die man für gewöhnlich mit unordentlichen, geistesabwesenden Männern in Verbindung bringt. Sie hatte sich immer für ein ziemlich uninteressantes Mädchen mit dicker Taille und dicken Knöcheln gehalten. Nicht hässlich. Nichts Besonderes. Aber wenn sie mit Chacko zusammen war, wurden alte Schranken niedergerissen. Horizonte erweitert. Vielleicht war sie zu jung, um zu merken, dass das, was sie als Liebe für Chacko deutete, tatsächlich die versuchsweise, zaghafte Akzeptanz ihrer selbst war. Während er sprach, spürte Velutha, wie seine Stimme auf ihn zurückschlug, als wäre sie auf eine Wand getroffen und abgeprallt ... Wieder hörte sich Velutha etwas sagen, was dem Mann, zu dem er sprach, gleichgültig war. Und da war es wieder. Eine weitere Religion, die sich gegen sich selbst wandte. Ein weiteres Gedankengebäude, errichtet von menschlichem Geist, ausgehöhlt von der menschlichen Natur. Es wird noch schlimmer werden, dachte er. Und dann besser. Er schritt jetzt rasch aus, ging zum Herzen der Finsternis. Einsam wie ein Wolf. Der Gott des Verlustes. Der Gott der kleinen Dinge. Die Polizisten hielten an und schwärmten aus. Das war nicht wirklich nötig, aber sie mochten diese Berührbarenspiele. Gefühle der Verachtung, geboren aus einer formlosen, uneingestandenen Angst - der Angst der Zivilisation vor der Natur, der Angst der Männer vor den Frauen, der Angst der Macht vor der Machtlosigkeit. Aus dem Drang des Menschen zu zerstören, was er weder unterdrücken noch vergöttlichen kann. Jemand sprach mit ihnen. Ein freundlicher berührbarer Polizist. Freundlich zu seinesgleichen. |
© Hubert Hirsch - Poetische Tagträume