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Martha Bißmann im Hohen Haus am 27.05.2019:

Vor genau einhundert Jahren setzte sich ein Mann namens Hans Kelsen an den Schreibtisch, mit keinem geringeren Auftrag als den, unsere demokratische Bundesverfassung zu entwerfen.

Es war die Vision einer liberalen, stabilen Demokratie, in der die Menschenrechte fest verankert sind, eine Verfassung, die unsere Minderheiten schützt und uns in den Tagen der Regierungskrise Halt gibt.

Lassen Sie uns über Werte, Haltungen, Moral und Ethik in der Politik sprechen, meine Damen und Herren! Wären ein Vizekanzler, der mit schweren Korruptionsdelikten flirtet, ein Innenminister, der die rechtsextremen Identitären als Gleichgesinnte bezeichnet, nach wie vor möglich, wenn die Werte der Anständigen und Guten Einzug in der Politik gehalten hätten? – Ich glaube nicht. Es geht da um Werte wie Toleranz, Respekt, Achtung, Verantwortung, Vertrauen, Empathie, Ehrlichkeit, Nachhaltigkeit, Mut, Stabilität, Authentizität, Integrität, Demut, Bescheidenheit, Freundlichkeit, auch Fröhlichkeit, Sachlichkeit. Wie klingt das für Sie?


Wollen wir uns mutig und herzhaft dafür entscheiden, diese Werte in die Politik zu tragen? Wissen Sie, was dann kommt, was uns dann erwartet? – Es erwartet uns eine ehrliche, ehrenvolle und ethische Politik, eine Politik, die in der Bevölkerung Vertrauen schürt, eine Politik ohne Angst, ohne Angstmache, eine Politik, die Angstmache nicht mehr braucht, um für Wählerstimmen zu werben, weil die ethischen und hochanständigen Politikerinnen und Politiker eine unglaubliche Sogwirkung ausstrahlen werden, die stärker als Angst ist.

Es erwartet uns außerdem, ja, vielleicht auch so etwas wie Liebe, das Gefühl von Zusammenhalt, von Zusammengehörigkeit. Wir werden in unserem wunderschönen

Land der Vielfalt als Menschen zusammenwachsen, in unseren Bräuchen und Traditionen, voller Respekt vor dem Leben, der Natur und den Unterschiedlichkeiten. Klingt das zu sehr nach Utopia?

Bevor Sie mich als Utopistin und Spinnerin abkanzeln, möchte ich Sie daran erinnern: Im Lauf der Geschichte sind alle oder die meisten Visionäre und VordenkerInnen als Spinner bezeichnet worden, auch diejenigen, die von einem friedlichen, vereinten Europa der offenen Grenzen geträumt haben, unter anderem Stefan Zweig.

Daher möchte ich Sie einladen: Ich glaube, der Zeitpunkt ist jetzt perfekt, es ist die Zeit gekommen, gemeinsam – mit allen Fraktionen, auch der FPÖ – den Wertewandel zu beschreiten. Mein Eindruck aus Vieraugengesprächen mit Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion ist, dass die Mehrheit im Raum das Bedürfnis nach einer Kultur der Menschlichkeit eint, aber Sie sind oft in Ihren Kontexten verhaftet.

Der Wertewandel wird uns helfen, unsere Mitmenschen nicht länger nach dem Aussehen oder der Kleidung – sei es das Kopftuch, oder der Bart – zu bewerten, sondern am Grad der gelebten Menschlichkeit.

Die von einer Mehrheit gewollte und gelebte Menschlichkeit, ihre Werte, sie werden uns in der neuen Politik in Zukunft tragen und uns den Halt geben, den wir brauchen. Sie werden Regierungskrisen, wie wir sie in diesen Tage erleben, gar nicht mehr aufkommen lassen, gar nicht mehr erlauben. Damit werden wir unsere Verfassung zukünftig auch nur mehr wirklich in den allergrößten Notfällen bemühen müssen.

Ja, sehr geschätzte Kollegin Irmgard Griss, da bin ich ganz bei Ihnen: Ich bin überzeugt, wir können die Politik verändern. Denn schließlich und endlich geht es um nichts weniger als darum, das angeschlagene Vertrauen der Menschen in diesem Land in die Politik wiederherzustellen.


Das ist, glaube ich, wohl unser wichtigster Auftrag hier im Hohen Haus.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.